Das Händel-Haus ist um einen Schatz reicher:

Zur Ersteigerung einer zeitgenössischen Abschrift der Coronation Anthems von Georg Friedrich Händel

Händel-Haus-Blog 03/2024
Juliane Riepe (Abt. Bibliothek/Archiv/Forschung)

Am 3.4.2024 wurde eine frühe Abschrift von Händels Coronation Anthems aus dem 18. Jahrhundert im Händel-Haus in Halle (Saale) der Öffentlichkeit präsentiert. Es handelt sich um ein äußerst wertvolles und bedeutendes Dokument aus dem unmittelbaren Umkreis des Komponisten.

Gegen Ende des Sommers 2022 beherrschte ein Thema die Nachrichten mehr oder minder weltweit: Am 8. September war Queen Elizabeth gestorben. Ziemlich bald wurde der Termin der Krönung ihres Sohnes zum englischen König bekanntgegeben – die Krönung sollte am 6. Mai 2023 stattfinden.

Wir am Händel-Haus waren der Ansicht, dass es zu diesem Anlass unbedingt eine Ausstellung geben müsse – Händel war und ist eng mit dem englischen Königshaus verbunden; eine seiner Kompositionen würde, so war zu erfahren, bei der Krönung erklingen.

Vorbereitet wurde also eine Kabinettausstellung: DIE KRÖNUNG – Händel und das britische Königshaus. Die Eröffnung fand – wie hätte es anders sein können – am Krönungstag statt.

Während diese Ausstellung noch lief, erhielten wir Anfang November 2023 eine Mail von einem der Handschriftenexperten des renommierten Londoner Auktionshauses Christie’s. Er teilte mit, dass Christie’s am 8. November eine zeitgenössische Handschrift von Händels Coronation Anthems versteigern würde. Wir seien ja vielleicht daran interessiert.

Natürlich waren wir interessiert. Aber diese Mitteilung kam an einem Donnerstagabend, und die Versteigerung fand am darauffolgenden Mittwoch statt, also drei Arbeitstage später. Es schien fast unmöglich, so kurzfristig Finanzierungsmöglichkeiten zu finden, die es uns auch nur erlauben würden mitzubieten. Denn das Mindestgebot lag bei 20.000 Pfund, plus Aufgeld von 26 % und Zollgebühren. Benötigt wurden also mindestens 30.000 Euro. Und die Antragsfristen der einschlägigen Stiftungen waren längst abgelaufen. Eigentlich sprach alles dafür, die Sache gar nicht erst in Angriff zu nehmen – der Versuch schien aussichtslos.

Aber das Händel-Haus ist mit zeitgenössischen Händel-Handschriften nicht gerade überreich gesegnet; zum Sammlungsbestand gehörten bis dahin ganze zwei Abschriften von Händel-Werken, die zu seinen Lebzeiten entstanden waren. Solche Objekte gelangen extrem selten in den Handel. Was umgekehrt hieß, dass wir uns eine solche Chance nicht entgehen lassen durften, zumal es sich um die Partitur eines der berühmtesten Werke Händels handelte und diese Handschrift aus Händels unmittelbarer Umgebung stammt.

Wir haben uns zunächst mit drei anderen potentiellen Interessenten abgesprochen, von denen wir wussten, dass sie ebenfalls Händel-Werke sammeln: der British Library, der Londoner Coke Collection und der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg – Ziel war es zu verhindern, dass man (gewissermaßen unter Kollegen) gegenseitig den Preis hochtreibt. Alle drei Häuser haben wegen der Kürze der Zeit aber darauf verzichtet mitzubieten.

Unsererseits haben wir mit Hochdruck alles versucht, um eine Teilnahme an der Versteigerung zu ermöglichen. Es musste bei den möglichen Geldgebern sondiert werden, ob vielleicht doch noch eine Chance auf Unterstützung bestand; es war erforderlich, sich bei dem Auktionshaus zu registrieren und die entsprechenden Unterlagen einzureichen; es mussten Anträge ausgefüllt und Begründungen geschrieben werde; wir benötigten – buchstäblich übers Wochenende – aussagekräftige Gutachten.

Es hätte dann tatsächlich alles gar nicht besser gehen können – alle Beteiligten haben uns nach Kräften unterstützt. Am Montag waren drei positive Gutachten da und Finanzierungszusagen von zwei Privatpersonen und vom Freundes- und Förderkreis des Händel-Hauses, am Dienstag erhielten wir die Bewilligung der Kulturstiftung der Länder, am Mittwoch haben wir unser Gebot abgegeben – und erhielten wenige Stunden später den Zuschlag.

Den großzügigen Geldgebern – der Kulturstiftung der Länder, dem Freundes- und Förderkreis des Händel-Hauses zu Halle e.V. und zwei privaten Großspendern – und allen,  die bei dem Erwerb der Handschrift sehr bereitwillig, außerordentlich freundlich und engagiert, extrem schnell, großzügig und ganz unkompliziert geholfen und Rat und Tat, Arbeit und Zeit zur Verfügung gestellt haben, möchten wir an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich danken – sie haben ermöglich, dass die Sammlung des Händel-Hauses um einen einzigartigen Schatz reicher ist.

 

Eine Handschrift eines der bedeutendsten Werke Händels, entstanden im persönlichen Umkreis des Komponisten

Ersteigert wurde eine Partitur aller vier Coronation Anthems, die Händel 1727 für die Krönung König Georgs II. komponierte. Die Handschrift entstand vermutlich kurze Zeit nach der Komposition. Es handelt sich um eine Abschrift der verlorenen Direktionspartitur. Der Schreiber gehörte möglicherweise zum Kreis der Kopisten um Händels Hauptkopist Christopher Schmidt; er hatte jedenfalls Zugang zur Direktionspartitur, die im Besitz Händels war. Damit stammt das Manuskript aus dem persönlichen Umfeld des Komponisten.

Die Handschrift umfasst 148 Seiten; sie ist vollständig und sehr gut erhalten. Der Einband dürfte zeitgenössisch sein.

Die Reihe der Vorbesitzer lässt sich bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Seit dieser Zeit befand sich die Handschrift im Besitz des Musikverlags Schott. Die Partitur wurde 2002 bei Sotheby’s versteigert und von dem norwegischen Handschriftensammler Martin Schoyen angekauft; dessen Musikaliensammlung wurde dann wiederum 2023 bei Christie’s versteigert.

 

Händel und das britische Königshaus

Kein Komponist war enger mit der britischen Monarchie verbunden als Georg Friedrich Händel. Der Hallenser stand den größten Teil seines Lebens im Dienst der Königinnen und Könige von Großbritannien und ihrer Familien; er komponierte und musizierte für vier Generationen des Königshauses.

Händel lebte seit 1712 dauerhaft in England. Schon seit dem Vorjahr verfügte er über Kontakte zum Hof und komponierte für Queen Anne; ihr ist auch seine erste für England komponierte Oper gewidmet, Rinaldo. Die Königin ihrerseits band Händel an den Hof, indem sie ihm eine Pension von 200 Pfund auf Lebenszeit aussetzte. Anfang des Jahres 1713 entstand im Auftrag der Königin Händels erste englische Staatsmusik, das Te Deum und Jubilate zum Frieden von Utrecht, der für England den Spanischen Erbfolgekrieg beendete.

1714 starb die Königin; ihr Nachfolger wurde Händels Hannoveraner Dienstherr, Kurfürst Georg Ludwig, nun als englischer König Georg I. Zur Ankunft des neuen Königs in London erklang ein von Händel komponiertes Te Deum. Drei Jahre später schrieb der Komponist für eine königliche Lustfahrt auf der Themse die Wassermusik. Ab 1719 war Händel Dirigent der Royal Academy of Music, des Londoner Opernunternehmens, das vom König bezuschusst wurde. Händel revanchierte sich, indem er wiederholt Opernaufführungen den Mitgliedern des Königshauses widmete. 1723 wurde Händel zu einem der Komponisten der Chapel Royal ernannt. Seit etwa der gleichen Zeit war er Musiklehrer der drei ältesten Prinzessinnen Anne, Amelia und Caroline. Im Februar 1727 gewährte Georg I. dem Komponisten die englische Staatsbürgerschaft.

Im selben Jahr erteilte sein Sohn, Georg II., Händel den wohl prestigeträchtigsten Auftrag seiner Karriere: die Komposition der Musik zur Krönung des Königspaares in Westminster Abbey. Es folgten weitere Kompositionen für Trauer- und Freudenfeste des Königshauses, unter anderem Festmusiken zu den Hochzeiten der Königskinder und zur Trauerfeier für die verstorbene Königin Caroline 1737, des Dettinger Te Deum anlässlich des Sieges über die Franzosen 1743 und die Feuerwerksmusik zum Frieden von Aachen 1749.

Händel war über vier Generationen hinweg dem Königshaus verbunden – und das Königshaus ihm. Georg III., der Händel noch als Kind gekannt hatte, setzte sich für die erste Händel-Gesamtausgabe ein, kaufte einen Großteil der Händel-Autographe an und war Schirmherr der Londoner Handel Commemoration von 1784, einer gigantischen Händel-Gedenkfeier, die geradezu als Staatsaktion angelegt war: man ehrte einen Musiker, der zum britischen Nationalkomponisten geworden war.

View of Handel’s Monument in Westminster Abbey, aus: Charles Burney, An Account of the Musical Performances in Westminster Abbey […] in Commemoration of Handel, London 1785

Diese Verbundenheit kam auch in der jüngeren Vergangenheit noch einmal zum Ausdruck: Als der damalige Intendant Queen Elizabeth bat, Schirmherrin der Jubiläums-Händel-Festspiele 2009 in Halle zu werden, sagte sie zu. Und als im Mai 2023 ihr Sohn zum König gekrönt wurde, erklang während der Krönungszeremonie eines der Coronation Anthems, so, wie das seit 1727 ausnahmslos bei jeder englischen Königskrönung geschehen war – ein Faktum, dass König Charles bei seiner Rede vor dem deutschen Bundestag im März 2023 noch einmal ausdrücklich hervorhob.

 

Die Coronation Anthems

Händels vier Anthems entstanden für die Krönungszeremonie, die sich 1727 in Westminster Abbey vollzog. Eine Krönung ist ein politisches Ereignis von fundamentaler Bedeutung – mit ihr beginnt legitime (als legitim beanspruchte, als legitim wahrgenommene) Herrschaft. Das Krönungszeremoniell ist ein Zeichensystem, das soziale und politische Ordnungen und Abhängigkeiten sichtbar und hörbar und auf diese Weise überhaupt erst wirksam macht. Was hier vermittelt wird, wird über Worte, Symbole, Handlungen, Positionen und Bewegung im Raum vermittelt – aber eben auch über die Musik, die während der Krönungszeremonie erklingt.

Musik kann Abläufe gliedern, sie kann Bedeutung signalisieren, eine Atmosphäre des Bedeutungsvollen herstellen, Größe, Pracht und Erhabenheit vermitteln; sie kann emotionalisieren und dramatisieren; sie schafft Identität und das Gefühl der Zugehörigkeit; sie hebt wichtige Worte und wichtige Handlungen hervor; sie kann Texte illustrieren und deuten, sie kann aber auch spürbar machen, was sich nicht in Worte fassen lässt.

Händels Coronation Anthems bestehen aus vier Einzelkompositionen, die vier zentrale Momente des Krönungszeremoniells markieren:

 

die Anerkennung des Königs als rechtmäßigem Herrscher         Let thy hand be strengthened

die Salbung (Anerkennung durch Gott bzw. die Kirche)             Zadok the Priest

die Krönung                                                                                    The King shall rejoice

die Salbung und Krönung der Königin                                         My heart is inditing

 

Der ‚heiligste‘ Moment der Krönungszeremonie ist nicht die Krönung selbst, sondern die Salbung. Sie geschieht unter einem Baldachin, ist den Blicken also verborgen. Die Musik fängt die Größe und Erhabenheit dessen, was sich da unsichtbar vollzieht, gewissermaßen akustisch auf. Gesungen wird ein Bibeltext (AT, 1. Buch der Könige, Vers 39), der von der Salbung Salomos handelt, dem Idealbild des christlichen Herrschers:

„Zadok the priest and Nathan the prophet anointed Solomon king.

And all the people rejoiced and said: God save the King! Long live the King!

May the King live for ever. Amen. Hallelujah.“

Händel hat für diesen Moment eine seiner beeindruckendsten, effektvollsten und berühmtesten Kompositionen geschrieben. Das war ihm selbst offenbar auch bewußt – er hat die Musik später unter anderem in seinem Oratorium Esther und im Occasional Oratorio ‚recycelt‘, hat diese Musik also selbst schon in den Konzertsaal gebracht.

In unserer Zeit wurde diese Krönungsmusik dann noch einmal in einen ganz anderen Rahmen versetzt: 1992 suchte der Europäische Fußballverband UEFA bei der Gründung der Champions League nach einem wirkungsvollen, Gänsehaut garantierenden „Audio Branding“ für die Vermarktung. Die UEFA gab bei dem Komponisten Tony Britten einen hymnisch-heroischen Chorsatz in Auftrag, der sich ausdrücklich an der Musik Händels orientieren sollte. Tony Britten recycelte dafür Händels Zadok the priest. Eingespielt wurde das Stück vom Royal Philharmonic Orchestra, dessen Schirmherr – der britische König ist.

 

„And all the people rejoiced“

Händel hat seine frühesten Erfahrungen mit liturgischer Chormusik wenige Schritte von seinem Geburtshaus entfernt in der hallischen Marktkirche und im Dom gemacht. Er hat sich an vielen Orten Europas musikalisch weitergebildet; in England hat er die Tradition der englischen Kirchenmusik einerseits aufgegriffen, sie andererseits aber auch selbst maßgeblich geprägt.

Die Marktkirche in Halle (Foto: J. Riepe)

Seine vier Coronation Anthems sind eng verflochten mit politischen, religiösen und kulturellen Dimensionen der britischen Monarchie. Vor allem aber gehört Händels Krönungsmusik zu seinen berühmtesten, eindrucksvollsten und schönsten Kompositionen; Zadok the priest ist Händels sicherlich bekanntestes Chorwerk und kann als Teil des musikalischen Weltkulturerbes gelten. Einer der Gutachter hat die ersteigerte Handschrift als „kulturelles Monument“ bezeichnet, jenseits aller nationaler Grenzen.

Eine Abschrift dieses Werkes, entstanden im unmittelbaren Umkreis Händels, ist nun in Händels Geburtshaus gelangt. Dieses Dokument befindet sich damit nicht mehr in Privatbesitz, sondern ist der Öffentlichkeit zugänglich.

Die Handschrift wird in den folgenden Monaten bis zu den Händel-Festspielen (einschließlich) in der Dauerausstellung des Händel-Hauses zu sehen sein. Danach kommt die Partitur aus konservatorischen Gründen erst einmal wieder in den Tresor. Allen, die sich damit beschäftigen möchten, steht sie jedoch zur Verfügung, so bald wie möglich auch in digitalisierter Form.

„And all the people rejoiced“ heißt es in Zadok the priest – wir freuen uns tatsächlich sehr und danken allen, die bei dem Erwerb dieser Handschrift mitgewirkt und ihn ermöglicht haben, herzlich!